Über die Folgen von Propaganda
Ein Russe ersticht im bayerischen Murnau zwei Ukrainer: War es ein Streit zwischen Suffbrüdern, oder spielte der Krieg eine Rolle? Ein Prozessbericht – In der ZEIT erschienen,Foto: WolfBlur, Pixabay
Unablässig reiben die tätowierten Finger an den Perlen des Rosenkranzes. Acht Verhandlungstage lang schweigt Iouri J. fast durchgehend, ein Mann mit grauem Bart, der älter wirkt, als seine 58 Jahre. Vor Gericht erscheint er stets im blauen Jogginganzug.
Auch am 10. Februar 2025, als der Oberstaatsanwalt in einem Saal des Landgerichts München II die Mordanklage verliest, sind die Finger in Bewegung. Der Angeklagte, Iouri J., hänge einem übersteigerten russischen Nationalismus an, sagt der Oberstaatsanwalt, er befürworte uneingeschränkt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies sei der Grund, warum er am 27. April 2024 die ukrainischen Staatsangehörigen Wolodymyr K. und Wjatscheslaw B. ermordet habe. Die beiden waren Soldaten auf Reha, im oberbayerischen Murnau kurierten sie ihre Kriegsverletzungen aus. Iouri J. stach mit der 14 Zentimeter langen Klinge eines Outdoor-Messers auf sie ein. Beide erlagen ihren Verletzungen.
Aus der Tat wurde rasch ein Politikum: ein Russe, der in Deutschland Ukrainer ermordete! Der damalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte, der Verdächtige müsse mit der Härte des Gesetzes bestraft werden. Jedoch stellte sich bald heraus, dass Täter und Opfer offenbar Trinkkumpanen waren. Ein politischer Angriff oder doch nur ein Streit unter Säufern? Das ist in etwa die Frage, mit der sich das Gericht bis zur Urteilsverkündung Anfang März beschäftigt. Wenn der Angeklagte aus Hass auf Ukrainer tötete, dann wäre es Mord aus niederen Beweggründen – ansonsten womöglich Totschlag. Oder liegt gar eine alkoholbedingte Schuldunfähigkeit vor?
Vom Ortskern in Murnau mit seinen pastellfarbenen Häuschen hat man einen klaren Blick auf die Ausläufer der Alpen, die hinter Murnau beginnen. Das Licht, die Berge – an Tagen wie diesen ahnt man die besondere Atmosphäre, die die Künstler des Blauen Reiters um Wassily Kandinsky und Gabriele Münter kurz nach der Jahrhundertwende hierhergezogen hat. 15 Fußminuten entfernt von der Innenstadt befindet sich ein Häuserblock: In einer dieser schmucklosen, etwa 25 Quadratmeter großen Wohnungen hat Iouri J. die Jahre vor seiner Verhaftung allein gelebt. Hierher war er geflohen, nachdem er die beiden Ukrainer getötet hatte, eine Spur von Blutstropfen führte die Polizisten direkt vor seine Wohnungstür.
Die Nachbarn können nicht viel über Iouri J. erzählen: Er habe sehr zurückgezogen gelebt. Wenn man ihm doch mal begegnet sei, dann sei er betrunken und aggressiv gewesen, habe mit Bierflaschen um sich geschmissen. Eine Anwohnerin sagte im Polizeiverhör, sie habe sich nicht mehr in den Waschraum getraut – aus Angst, ihm dort zu begegnen.
Über sein Leben lässt der Angeklagte am ersten Prozesstag durch seinen Verteidiger Auskunft geben. Am 12. Januar 1967 wird er in Zentralrussland geboren. Seine Eltern sind Bauern in einer Kolchose, er habe sich geliebt gefühlt, keine Gewalt, kein Alkohol. Ende der 1980er-Jahre wird er in die Rote Armee eingezogen und in der DDR stationiert. Dort fällt er wegen schlechten Benehmens auf. Der Vermerk in seiner Akte lautet: “Kontakt zu deutschen Frauen in einer Disco”. In Russland soll er die Haft antreten, doch er flieht, stellt 1991 in München einen Asylantrag. Der Antrag wird abgelehnt, doch er erhält eine Duldung und darf bleiben.
Die Jahre nach seiner Ankunft beschreibt Iouri J. gegenüber dem psychiatrischen Gutachter wie folgt: “Getrunken, geklaut, Gefängnis, getrunken, geklaut, Gefängnis.” Mit 3,85 Promille baut er gleich nach seiner Ankunft in Deutschland einen Unfall. Später attackiert er einen Mitbewohner im Flüchtlingsheim mit einem Messer, wird wiederholt wegen Diebstahls verhaftet. Insgesamt hat er schon vor dem Angriff 17 Eintragungen ins Polizeiregister, die Haftstrafen summieren sich auf mehrere Jahre.
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