Über die Dynamiken der Radikalisierung
1991 wird in Saarlouis ein Ghanaer ermordet. Tom ist damals Neonazi, der Täter sein Kamerad. Heute fragt er sich, warum der andere zum Mörder wurde – und er nicht. Erschienen in ZEIT Verbrechen-Ausgabe 31, Fotos: Anna Ziegler
Mehr als drei Jahrzehnte sind seit jener Nacht vergangen – doch er hört ihn noch immer schreien, sagt Jasin*, fast jede Nacht. Er sei damals jung gewesen, 15 Jahre alt; heute ist er 46.
Jasin ist ein Mann mit ausrasierten Schläfen und sanfter Stimme. Als er an diesem Dezembertag 2022 im großen Saal des Oberlandgerichts Koblenz im Zeugenstand sitzt und seine Geschichte erzählt, hat gerade der erste von zwei langen Prozessen begonnen. Zwei Prozesse, die sich zusammen über fast zwei Jahre ziehen werden und für späte, sehr späte Gerechtigkeit sorgen sollen. Sie sollen klären, was damals vor über drei Jahrzehnten, in jener Nacht auf den 19. November 1991 wirklich passiert ist. Wer Samuel Kofi Yeboah ermordet hat; und wer Mitschuld an dessen Tod trägt.
Damals ist Jasin gerade aus dem Kosovo geflohen, das durch Unruhen des zerfallenden Jugoslawiens heimgesucht wird. Im saarländischen Saarlouis kommt er im Zimmer seines Onkels unter, der in einer schäbige Flüchtlingsunterkunft einquartiert ist: die Räume sind spärlich möbliert, schwere Gardinen, die selbst zur Mittagszeit kein Licht reinlassen, so wird es ein Polizist später beschreiben. Doch an diesem Abend soll es heiter werden, einer der anderen Bewohner feiert in seinem Zimmer Geburtstag. Ein paar Freunde sind eingeladen, sie kochen gemeinsam, und weil Zwiebeln fehlen, geht Jasin hoch in den ersten Stock, um bei den Nachbarn nach welchen zu fragen. Aus einem der Zimmer hört er Musik – es ist das Zimmer von Samuel Kofi Yeboah, einem ghanaischen Flüchtling, den Jasin mag.
Er klopft an der Tür.
„Samuel, hast du zwei Zwiebeln?“
„Ja klar. Mach die Schublade auf und nimm dir so viele wie du willst.“
„Du bist heute so fröhlich!“
„Ja, ich hab‘ beim Boxen gewonnen“
Da umarmt Jasin seinen Freund. So endet die Erinnerung.
Als sie wieder einsetzt, steht Jasin draußen, vor ihm die Flüchtlingsunterkunft, Flammen lodern, Menschen springen aus dem Fenster. Ein Massaker, ein Blutbad, denkt Jasin. Er steht unter Schock, kann nicht anders, als zu weinen. Von oben hört er Schreie, es ist Samuels Stimme: „Hilfe, Hilfe!“ Jasins Onkel will hinein, Samuel herausholen, doch Jasin hält ihm am Ärmel, fleht, er möge draußen bleiben, bei ihm bleiben, er werde sonst sterben.
„Hilfe, Hilfe!“
Irgendwann: Stille.
Als die Feuerwehrleute Minuten später Samuels Körper auf einer Bahre nach draußen tragen, ist er in Folie gewickelt. Schnell ist klar, dass das Feuer von jemanden absichtlich gelegt worden war. Nur von wem?
Polizeimeldung 3.56 Uhr: Person mit schweren Brandverletzungen wurde geborgen und wird ins Krankenhaus weitergegeben
Polizeimeldung 4.15 Uhr: drei Verletzte bei Brand, eine Person wird vermutlich ableben
In den Tagen, Wochen und Jahren nach jener Nacht wird eher sporadisch nach einem möglichen Täter gefahndet, die Ermittlungen aber bald eingestellt. Bis jemand 28 Jahre später den entscheidenden Hinweis geben wird.
Im Zeugenstand greift Jasin zum Taschentuch, kippt zur Seite weg. Er wimmert: „Samuel war so ein netter Kerl, immer am Lächeln, keinem hat er wehgetan.“
Ihm schräg gegenüber, auf der Anklagebank, sitzt ein drahtiger Mann mit ergrauter Stoppelfrisur, der komplett in Schwarz gekleidet ist: schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Lackschuhe. Der Mann heißt Peter Werner St..Er ist des Mordes an Samuel Kofi Yeboah angeklagt. Damals, vor über 30 Jahren, in einer Zeit, in der in Deutschland laut Anklageschrift eine „Pogromstimmung“ gegen Asylsuchende herrschte, in der in Hoyerswerda und später Rostock-Lichtenhagen oder Solingen Menschen mit Migrationshintergrund bedroht, gejagt, ermordet wurden, da soll dieser Mann, dieser ehemalige Nazi-Skin, das Flüchtlingsheim in Saarlouis angezündet haben. Eine Frau hatte ihn 2019 angezeigt, nachdem sie sich daran erinnert hatte, dass S. auf einer Grillfreier mit der Tat geprahlt hatte: „Erinnerst du dich an den Brandanschlag in Saarlouis-Fraulautern? Das war ich, und sie haben mich nie erwischt.”
Zehn Monate nach Jasins Aussage wird Peter Werner S. schließlich wegen Mordes und gefährlicher Brandstiftung nach Jugendstrafrecht zu sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt, da er bei Tatbegehung erst 20 Jahre alt gewesen war. Wie sich herausstellte, hatte er das Flüchtlingsheim damals offenbar vom Hintereingang aus betreten, Benzin über die Holztreppe geschüttet und es mit einem Streichholz angezündet, während die meisten Bewohner geschlafen hatten. Durch die Kaminwirkung des Treppenhauses hatte sich das Feuer in kürzester Zeit bis zum Dachboden ausgebreitet.
Doch bald wird noch ein weiterer Mann vor Gericht stehen.
Ein bewölkter Sommertag im Jahr 2024. In einem menschenleeren Park in Saarlouis steht ein kräftiger Mann Ende 40 mit lichtem Haar und zieht an seiner Zigarette. Er soll hier Thomas Rettig heißen, er möchte anonym bleiben, damit “absolut keine Rückschlüsse auf meine Person gezogen werden können”. Rettig fürchtet um die Sicherheit seiner Frau und seiner Kinder.
Bis vor kurzem habe er einen Bogen um Saarlouis gemacht, erzählt Rettig. Er wollte von diesem Kapitel seines Lebens nichts mehr wissen. Doch dann, vor rund drei Jahren, standen plötzlich Beamte des BKA vor seiner Haustür. Erst wusste er nicht, was sie von ihm wollten, aber dann fiel der Name Yeboah – da habe es Klick gemacht. Man ermittle gegen einen alten Kameraden von Rettig, sagten die Polizisten, wegen des Brandanschlags damals. Gegen Peter Werner S.
So waren die verdrängten Erinnerungen in Rettigs Leben zurückgekehrt – und er beschloss, all die Plätze von damals noch einmal abzulaufen. Über den alten Markt, dem Zentrum der hübschen Festungsstadt Saarlouis mit seinen Gassen und Bars – bis hierher, dem Ludwigpark, den alle nur Löwenpark nennen, wegen der beiden Löwenstatuen. All die Plätze, an denen er, als er noch ein Nazi-Skin war, gesoffen, gepöbelt und sich geprügelt hatte.

Damals trug er noch Glatze und Springerstiefel, heute ein schlichtes T-Shirt und eine randlose Brille.
Als das BKA vor seiner Tür stand, erzählte er bereitwillig von der Zeit damals, später wurde er – wie die meisten seiner Nazi-Kameraden – als Zeuge nach Koblenz vors Oberlandesgericht geladen. Über die Presse erfuhr er, wie es nach seiner Aussage weiterging: Dass Peter Werner S. wegen Mordes verurteilt wurde. Und dass dann auch noch ein anderer Peter von damals, Peter St. – von Zeugen gerne als „Oberskin“ bezeichnet – wegen des Anschlags vor drei Jahrzehnten verhaftet wurde. Der Tatverdacht gegen diesen zweiten Peter: Er soll seinen mittlerweile verurteilten Kammeraden an jenem Abend zur Tat angestiftet haben. Um diesen Vorwurf drehte sich ein zweiter Prozess. Doch am 9. Juli dieses Jahres wurde Peter St. freigesprochen – weil der Hauptbelastungszeuge Heiko S., ebenfalls ein ehemaliger Nazi-Skin, seine Aussage korrigiert hatte. Ein Feuer im Flüchtlingsheim, das habe Peter St. laut Heiko S.‘ Einschätzung nicht gewollt.
War Peter Werner S. also ein Einzeltäter, ein Irrläufer, der selbst aus Sicht der meisten rechtsextremen Skinheads jedes menschliche Maß verloren hatte, indem er Migranten verbrennen sehen wollte? Oder war die Tat die zwangsläufige Folge des Hasses, in den sich nicht nur in Saarlouis, sondern in ganz Deutschland Anfang der 1990er Jahre etliche Jugendliche hineingesteigert haben? Eines Hasses, der vielleicht auch heute, über 30 Jahre später wieder zu lodern beginnt?
Wenn jemand Antworten auf diese Fragen kennt, dann Thomas Rettig. Denn er war dabei, als es begann – hier im Löwenpark.
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