Über die Suche nach Wahrheit

Ein 80-jähriger Mann steht in Berlin vor Gericht, weil er als DDR-Grenzsoldat im März 1974 im Bahnhof Friedrichstraße einen polnischen Bürger erschossen haben soll. Die ZEIT, Foto Czesław Kukuczka, Wiki Commons

Der Prozess, der im August enden soll, beginnt am 14. März 2024: Martin N., ein knochiger, gebückter Mann in rotem Rollkragenpullover, betritt den Saal des Landgerichts Berlin. Er ist 80 Jahre alt, auf der Nase klemmt eine Lesebrille. Während die Staatsanwältin die Anklage verliest, macht er sich Notizen. Ihm, dem ehemaligen Stasi-Offizier, über den bisher nicht mehr bekannt ist, als dass er mit seiner Frau ein bürgerliches Leben am Rande Leipzigs führen soll, ihm werde Mord vorgeworfen, sagt die Staatsanwältin. Vor 50 Jahren, am 29. März 1974, soll er aus dem Hinterhalt auf den Polen Czesław Kukuczka geschossen haben; in den Rücken. Dieser Hinterhalt ist der Grund dafür, dass der Tatvorwurf nicht Totschlag lautet, wie in vergangenen Grenzschützenprozessen, sondern Mord. Die Tat wäre sonst verjährt – und der Angeklagte stünde nicht hier.

Die Indizienlage in dem Fall erscheint dünn: Da sind ein paar verblasste Zeugenaussagen, ansonsten beruht die Anklage auf Funden aus dem Stasi- Unterlagen-Archiv. Genauer gesagt: Der Stasi-Offizier muss sich für seine Tat verantworten, weil der Privatforscher Stefan Appelius nicht aufgehört hat, in den Aktentürmen der Behörde nach Geschichten von Vergessenen zu suchen – Menschen, die zur DDR-Zeit in Gefängnissen gefoltert oder auf der Flucht in den Westen erschossen wurden.

Stefan Appelius ist 61 Jahre alt. Mit seiner runden Lesebrille und dem aufmerksamen Blick könnte man ihn für einen Archivar halten. Wenn er einmal die Woche in den Lesesaal des Stasi-Unterlagen-Archivs kommt, dann wartet immer ein ganzer Rollwagen voller fliederblauer Umschläge auf ihn: Protokolle von Verhören im berüchtigten Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen sind dabei, genauso wie Berichte kleiner Mitarbeiter oder Briefe von Ministern wie Erich Mielke – eben alles, was in einem halben Jahrhundert DDR-Geheimdienstarbeit produziert wurde. Hunderttausende Seiten habe er schon gelesen, sagt Appelius, vielleicht ist die Million längst voll. Der Historiker hat in verschiedenen Büchern oder Aufsätzen von den Opfern der DDR-Diktatur erzählt.

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