Über den Charme von Widersprüchen
An der Ostsee gibt es noch einen Ort, der ein Geheimtipp geblieben ist: Stettin. Warum die Reise dahin lohnt – Die ZEIT
Der Schriftsteller Joseph Roth schrieb, dass es eine Vermessenheit sei, Städte beschreiben zu wollen. Sie hätten viele Gesichter, Launen und Richtungen, seien Einheit und Vielheit zugleich. Ihr Leben und Tod hingen von vielen Gesetzen ab, die in kein Schema passten.
Für kaum eine Stadt könnte das treffender sein als für Stettin. Denn die Hafenmetropole im äußersten Westen Polens gleicht einem Wimmelbild: Man kann so weit herauszoomen, wie man will – die Häuser, Menschen und Tiere darauf fügen sich auf den ersten Blick zu keiner stimmigen Einheit. Herrliche Jugendstilgebäude wechseln sich ab mit endlosen Plattenbausiedlungen. Zwischen Häuserreihen aus Backstein schiebt sich ungestüm die Philharmonie, von den Bewohnern “Eisberg-Palast” genannt, weil sie aussieht wie ein Haufen spitz zulaufender Eisberge. Sie wurde als Bauwerk des Jahres 2014 mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis ausgezeichnet. Die Altstadt hat sich herausgeputzt, Fassaden strahlen in Pastell, die Menschen auf den Terrassen genießen Pierogi oder Bier mit Himbeersirup, doch nur wenige Meter weiter blättert der Putz, tiefe Krater durchziehen die Fußwege.
Stettin, auf Polnisch Szczecin, liegt nur 150 Kilometer von Berlin entfernt. Fast schafft man es mit dem Deutschlandticket dorthin, nur für die letzten Stationen muss ein Aufpreis von 2,50 Euro gezahlt werden. Trotzdem galt die Stadt mit ihren 400.000 Einwohnern lange als die große Unbekannte Polens, jedenfalls aus deutscher Sicht: Krakau oder Breslau, Danzig oder Warschau, ja, da klingelt was. Aber Stettin? In Polen sagt man: “Krakau hat den Wawel, Breslau hat das Rathaus, und Stettin hat Pech.”
Doch immer mehr Ostsee-Reisende rütteln an diesem Bild. Für sie ist die Stadt ein Geheimtipp geworden. Nicht wegen des Offensichtlichen, denn Sehenswürdigkeiten gibt es kaum. Stettin ist subtil, eine Stadt für Liebhaber, vergleichbar mit den Songs einer Artrockband: Man muss sich Zeit nehmen, um ihre Melodie zu begreifen.
Beginnen wir in der Vergangenheit.
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