Über die Jahre des Hasses

Deutschland, Anfang der Neunziger: Neonazis gehören vielerorts zum Straßenbild. Sie jagen Migranten, zünden Flüchtlingsheime an, verprügeln linke Jugendliche. Ein Prozess in Koblenz führt zu den Skins von damals – und zu der Frage: Haben sie sich gewandelt? – Die ZEIT, Foto: Dietmar Gust

Sie begegnete ihm im Sommer 2007, auf einem Grillfest bei jemandem, mit dem sich ihr damaliger Freund herumtrieb. Sie saß auf einer Bierbank, als der schlanke Mann mit Kappe und Hornbrille neben ihr Platz nahm. Zunächst hätten sie kein Wort miteinander gesprochen, sagt sie heute. Doch dann habe er diesen Satz fallen gelassen: “Erinnerst du dich an den Brandanschlag in Saarlouis-Fraulautern? Das war ich, und sie haben mich nie erwischt.” Der Mann habe gelächelt. Sie habe danach nicht groß darüber nachgedacht. Bis zum November 2019.

Da habe sie sich plötzlich wieder an die Begegnung erinnert. Auf Facebook sei sie zufällig auf einen Medienbericht gestoßen, in dem es um einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim im Stadtteil Fraulautern ging. So habe sie erfahren, dass dabei im September 1991 ein Mensch getötet worden war, der Ghanaer Samuel Kofi Yeboah. Ihr sei klar gewesen: Ich muss zur Polizei. 

Während die Zeugin all das vor dem Oberlandesgericht Koblenz erzählt, verzieht der Mann auf der Anklagebank keine Miene. Seine Haare sind ergraut, er trägt schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Lackschuhe, wie an den meisten anderen Prozesstagen auch. Peter Werner S. ist heute 52 Jahre alt. Früher war er ein Skinhead. Mittlerweile, beteuert er, führe er ein bürgerliches Leben, mit Frau, Tochter, einem Job als stellvertretender Teamleiter in einer Autowaschstraße und, wie er sagt, “vielen ausländischen Freunden”.

Dieser Mann ist angeklagt wegen Mordes. Aufgrund der Erinnerung der Frau, die er vor eineinhalb Jahrzehnten auf einem Grillfest kennenlernte; für eine Tat, die drei Jahrzehnte zurückliegt. Im Prozess gegen Peter Werner S. ist sie wieder da: die Zeit nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, in der kahl rasierte, mit Baseballschlägern bewaffnete junge Männer vielerorts die Straßen beherrschten. Eine Zeit, in der es wie niemals zuvor und niemals danach in der Bundesrepublik zu Gewalt gegen Asylbewerber, Deutsche ausländischer Herkunft, Obdachlose und linke Jugendliche kam.

Die meisten Menschen dürften dazu Bilder aus Ostdeutschland vor Augen haben. Der rechtsradikale Mob vor Plattenbauten im sächsischen Hoyerswerda, in denen Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam untergebracht sind. Das brennende Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen, die darin eingeschlossenen Vietnamesen in Todesangst. Skins und Hooligans, die mitten am Tag Afrikaner durch Magdeburg jagen.

Diese Szenen haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Was weniger bekannt ist: Auch in beschaulichen westdeutschen Orten wie dem saarländischen Saarlouis mit seinen 38.000 Einwohnern trieben sich damals junge Menschen in ihrem rechtsextremen Hass gegenseitig zu brutaler Gewalt an.

Heute sind die Skins aus den allermeisten Städten verschwunden. Die sogenannten Baseballschläger-Jahre scheinen längst vergangen zu sein, wie eine versunkene Epoche. Aber sind sie das wirklich? 

28. November 2022, der zweite Prozesstag: Peter Werner S. liest einen Text vor, in dem es um sein Leben geht. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt gehabt, sein Stiefvater habe ihn verprügelt. 1988, mit 17, habe er eine Bäckerlehre begonnen. Mit dem Gesellen habe er den Transporter der Bäckerei gestohlen, sie seien durch Europa getourt. Danach Mietbetrügereien in Frankfurt und München. Festnahme in einem Hotel in Saarlouis. 

In der Jugendstrafanstalt lernte Peter Werner S. einen anderen jungen Mann kennen, klein und schmächtig, mit dem er sich den ersten Vornamen teilt: Peter St. wird von Zeugen als charismatisch beschrieben, ein guter Redner. 

Im Frühjahr 1991 war Peter Werner S. wieder frei. Vor Gericht trägt er vor, er habe Peter St. zufällig auf der Brücke über die Saar wiedergetroffen. “Komm doch mit, lass uns noch was trinken gehen”, habe Peter St. zu ihm gesagt.

So geriet Peter Werner S. in die Skinhead-Szene von Saarlouis. Peter St. war ihr Anführer.

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