Über die Zukunft des Kontinents

Nicht erst seit Salvini und co. steht die Europäische Union vor dem Abgrund. Dabei wäre ein solidarisches Europa die beste Antwort auf die alltäglichen Krisen. Doch es gibt Hoffnung.

Als Robert Schuman am 09. Mai 1950 vom Rednerpult abtrat, war eine Vision geboren. Die Rede, in der der kahlköpfige Außenminister Frankreichs die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle- und Stahl (EGKS) ausrief – der Vorgängerorganisation der heutigen EU – ging als Schuman-Erklärung in die Geschichte Europas ein. Nur fünf Jahre nach der Verwüstung des Zweiten Weltkrieges sollte das vereinte Europa den Bürgern Frieden und Wohlstand bringen. Eine große Chance, aber auch eine Herausforderung: So mahnte Schuman, dass ein Vertragswerk alleine nicht ausreichen würde. Europa werde vielmehr „durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“

Die „Solidarität der Tat“ also. Konkret heißt das: Indem Krisen gemeinsam gelöst werden, entstehe ein Gefühl, sich gegenseitig zu brauchen – und füreinander da zu sein. Heute, fast 68 Jahre nach Schumans berühmter Rede, stellt sich die Frage, ob ein gesamteuropäischer Solidaritätsgedanke nicht Wunschdenken war.

Der folgende Essay wird sich mit der Frage beschäftigen, warum es den Staaten Europas nicht gelingen will, Solidarität füreinander zu entwickeln – den Bürgern des „alten Kontinents“ also ein „Wir-Gefühl“ fehlt, obwohl gemeinsame Herausforderungen allgegenwärtig sind. Und ob ein solches vielleicht in Zukunft doch vorstellbar ist.

Die Flüchtlingskrise – oder: die Krise der „europäischen Solidarität“

„#chiudiamoiporti“ twitterte Matteo Salvini, der frischgebackene Innenminister Italiens: „Schließen wir die Häfen.“ Die Aquarius, ein privates Rettungsboot mit 629 geborgenen Migranten an Bord, wurde daraufhin an allen italienischen Häfen abgewiesen. Für die dehydrierten, stark geschwächten Menschen folgte eine mehrtägige Irrfahrt über das Mittelmeer. Salvini nutzte die Gunst der Stunde, um sein Resümee über den Stand der Europäischen Union zu ziehen: „Malta nimmt niemanden auf, Frankreich drängt an seinen Grenzen alle zurück, die Spanier verteidigen ihre Grenzen mit Waffen – in Europa kümmert sich jeder nur um sich.“ Und: „Ab heute sagt Italien Nein.“

Wo ist sie, die „Solidarität der Tat“?

Der rechtskonservative Lega-Chef Salvini markiert das Ende der humanen Einwanderungspolitik des südeuropäischen Landes, die von der abgewählten sozialdemokratischen Regierung praktiziert wurde. Eine humane Flüchtlings- und Einwanderungspolitik ohne nennenswerte Unterstützung von Resteuropa, längst bevor Staaten wie Deutschland in den Fokus der Einwanderer rückte. In diesem Licht erscheint das Handeln Roms hart, aber verständlich: Es ist das Licht des Paradigmas nationaler Selbstbehauptung – wer selbst keine Solidarität erfahren hat, der fühlt sich irgendwann zu ebenjener auch nicht mehr verpflichtet.

Die Zukunft des Kontinents entscheidet sich am Mittelmeer: “In Europa kümmert sich jeder nur noch um sich.”

Dabei wäre die Flüchtlingskrise prädestiniert dafür, jene Solidarität der Tat zu erzeugen, die Schuman einst vorschwebte: Es scheint offensichtlich, dass das beste Krisenmanagement nur dann erreicht werden kann, wenn die Staaten Europas miteinander kooperieren. Überhaupt konnte es erst soweit kommen, indem man es versäumte, schon im Vorfeld eine gemeinsame Infrastruktur sowie einen Rechtsrahmen zu schaffen, der im nicht unwahrscheinlichen Fall eines Ansturms auf Europa Konsequenzen abdämpfen und Unvorhersehbarkeit reduzieren würde. Aber auch bei der Lösung der nun eingetretenen Probleme ist der europäische Weg wohl der einzig sinnvolle: Der schon lange diskutierte Verteilungsmechanismus würde schwer belastete Staaten entlasten und somit das Maß der Zuwanderung pro Land auf ein allgemein verträgliches Niveau senken. Die destruktive Praxis des „Durchwinkens“ könnte durch die Schaffung europäischer Asylbehörden an der Küste Nordafrikas oder in den südeuropäischen Mittelmeerstaaten beendet werden, in denen potenzielle Asylbewerber geprüft und anschließend verteilt würden. Auch wenn es im Laufe weiterer zäher Verhandlungen zu vergleichbaren Beschlüssen käme, so ist doch klar: Von einer Solidarität, die aus dem gemeinsamen Handeln der Mitgliedsstaaten heraus entsteht, kann beileibe nicht gesprochen werden. Die Krise hat Misstrauen und Missgunst erzeugt, besonders gegen die Europäische Union selbst. Der Aufstieg der rechtskonservativen Parteien in nahezu allen Ländern der EU zeugt davon, dass viele Bürger nicht die Überlegenheit des Supranationalen erkennen, sondern vielmehr beginnen, das Nationale zu idealisieren, also die Vorstellung, dass man es alleine doch an Besten kann.

Privater Supranationalismus, politischer Nationalismus

In Seminarräumen des Espace Léopold in Brüssel, die in den verwinkelten Gängen des postmodernen Gebäudekomplexes verstreut sind, kann man erleben, dass europäische Zusammenarbeit auch anders geht. Dort, wo das Europäische Parlament zu Hause ist, treffen sich täglich unterschiedlichste Menschen, die mit europäischer Politik zu tun haben. Ob Mitarbeiter von NGOs, Stiftungen oder Denkfabriken, Startup-Gründer und Industrielle, IT-Experten oder Forscher – hier kommt zusammen, wer in Europa etwas verändern will. Sie haben aus ihrer persönlichen Arbeitslogik heraus erkannt, dass nationales Denken einschränkt und effiziente Lösungen erschwert. Deshalb vernetzen sie sich und versuchen über Ländergrenzen hinweg zukunftsfähige Konzepte zu erarbeiten. Die European Climate Foundation beispielsweise wurde gegründet, um dem Klimawandel den Kampf anzusagen. Da das Klima aber vor territorialen Grenzen keinen Halt macht, hat die Stiftung inzwischen Niederlassungen in Den Haag, Brüssel, Berlin, London und Warschau. Sie organisiert dort Arbeitsgruppen und verteilt Gelder an Einrichtungen, die das Ziel der europäischen Energiewende teilen.

Das Espace Léopold in Brüssel

Ob Klimapolitik oder Flüchtlingskrise – während private Aktivisten längst erkannt haben, dass sie sich vom nationalen Fokus lösen müssen, so dominiert in der europäischen Politik das Paradigma des Nationalen. Das zeigt sich schon alleine an der Tatsache, dass wesentliche Entschlüsse für die Zukunft Europas im Europäischen Rat getroffen werden, einem reinen Beratungsgremium der nationalen Regierungschefs – wenn nicht gleich eigenmächtige Entschlüsse der Staaten entgegen des Völkerrechts gefällt werden, wie bei den italienischen Hafenschließungen. Das Europäische Parlament, das einzige wirklich supranationale, weil von den Bürgern direkt gewählte politische Organ der EU, spielt im Orchester der europäischen Entscheidungsgewalten dagegen bestenfalls eine Nebenrolle.

Das „erfundene“ Paradigma des Nationalen

Nun liegt das Problem nicht einfach in einem Konstruktionsfehler der EU, deren Institutionen nicht supranational genug sind. Vielmehr scheint es, als würden die politischen Eliten den Sinn europäischer Integration durchaus begreifen und wären zu Reformen bereit. Man denke beispielsweise an die geplante EU-Verfassung oder die Rettungsschirm-Maßnahmen während der Eurokrise. Doch regt sich dagegen heftiger Widerstand in den Bevölkerungen, die zu großen Teilen am Paradigma des Nationalen festhalten wollen.

In der Sache vereint? Viele Bürger halten am Paradigma des Nationalen fest

So stellt sich also die Frage, warum von dem Konzept der Nation noch immer eine so große Bindungskraft ausgeht? Warum also der Nationalstaat als politische Solidargemeinschaft allgemein weitestgehend akzeptiert zu sein scheint, während europäische oder gar globale Solidarität – bei Themen, die eigentlich die „Weltbevölkerung“ betreffen – wie utopische Schwärmerei wirkt. Oder anders gefragt: Warum fühlt sich ein Norddeutscher verpflichtet, einem Arbeitslosen in München zu unterstützen, während die Migrationsprobleme Italiens nicht die Angelegenheit des Kärntners oder des Südfranzosen sind, solange sie sich nicht ausweiten?

Als im 18. Jahrhundert die Idee des Nationalstaats in den Mittelpunkt rückte, waren ihre Versprechen geradezu progressiv: Es ging darum, die Macht aus den Händen des Adels zu entreißen und sie in die des Volkes zu geben. Das Volk wurde dabei zum zentralen Bezugspunkt: Gab es bis dato durch Stände, Regionalismen oder Konfessionen eine natürliche Ungleichheit der Menschen eines Territoriums untereinander, so sollte diese in der Nation überwunden werden. Durch die Zugehörigkeit zu einem Volk wurden alle Bürger de jure zu Gleichen unter Gleichen. Vor den Rechtsinstanzen galt nun der korsische Bauer dem Adeligen aus Paris als gleich. Und auch wenn sich in ihrer Lebenswelt noch nie begegnet sind, so erkennt der eine dem anderen doch jene Rechte an, denn beide sind Franzosen. Gegenseitige Anerkennung als politisch Gleichgesellte, als Teil einer Schicksalsgemeinschaft.

So gelang es dem Nationalstaat, flächendeckende politische Solidarität zu erzeugen, wo zuvor bestenfalls die Angehörigen eines Standes untereinander solidarisch waren. Diese Solidarität ist dabei jedoch immer etwas Abstraktes, da sich alle Bürger einer Nation niemals untereinander kennen können. Das hat der Politologe Benedict Anderson in seinem Werk „Die Erfindung der Nation“ erkannt. Insofern sollte das, was für 83 Millionen Menschen – wie im heutigen Deutschland – möglich ist, auch für 512 Millionen Menschen – die Bewohner der Europäischen Union – zumindest theoretisch gelten können: Für abstrakte Solidarität benötigt es lediglich die Vorstellung der Einzelnen, mit den anderen Bürgern eines gewissen Territoriums etwas gemein zu haben, bestimmte Werte zu teilen – und gemeinsam eine politische Zukunft gestalten zu können.

Öffentlichkeit und Solidarität

Und doch enden diese „vorgestellten“ Solidargemeinschaften am Brenner, am Rhein oder an den Pyrenäen. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man die Ursprünge des Nationalismus im 17. und 18. Jahrhundert nachvollziehen. In seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel und Öffentlichkeit“ beschreibt Jürgen Habermas, wie sich jenes Nationalempfinden erst aus einer in dieser Zeit entstehenden Öffentlichkeit herausbildete. Angefangen hatte alles in intellektuellen Zirkeln in englischen Kaffeehäusern, französischen Salons und deutschen Tischgesellschaften. Dort wurde anfangs über Literatur, später vorrangig über Politik räsoniert. Waren diese Zusammenkünfte auf den Rahmen des physischen Ortes beschränkt und dadurch exklusiv, konnte durch die Liberalisierung der Presse nach und nach auch die Masse an den Diskussionen teilhaben. Es bildete sich zum ersten Mal eine „öffentliche Meinung“, die im Anschluss treibende Kraft der gesellschaftlichen Emanzipation wurde, sich gegen die feudale Politik richtete und schließlich in den Revolutionen mündete. Von da an mussten Regierungen um die Gunst der Öffentlichkeit buhlen, da ihre Macht von ihr abhängte. Die öffentliche Meinung wurde zum entscheidenden Einflussfaktor der Politik. Und indem Bürger über mehrere Kanäle miteinander diskutierten und die Zukunft des Landes mitbestimmten, entstand das Gefühl, zusammenzugehören. Öffentlichkeit, so kann man sagen, ist die Mutter der politischen Solidarität.

Gerade heute wieder aktuell: Habermas’ “Strukturwandel und Öffentlichkeit”. Bild: Wolfram Huke/ Wiki Commons

Nun war der Bezugsrahmen der öffentlichen Kritik durch die Publizistik meist die eigene Obrigkeit, die kritische Öffentlichkeit bildete sich also im Konflikt mit den eigenen überkommenen Strukturen. Der gemeinsame Kampf gegen die französische Krone konstituierte das Volk der Franzosen, das während der Französischen Revolution aufbegehrte. So war die Logik der öffentlichen Debatte nun aber eine nationale, keine gesamteuropäische. Dabei sollte es bleiben: Bis heute wird Politik vorrangig aus der nationalen Perspektive diskutiert. Bis auf wenige, eher unbekannte Ausnahmen existieren länderspezifische Informationsmedien. In den meisten Zeitungen wird in der Landessprache geschrieben, bei europäischen Themen vorrangig die Auswirkungen auf die eigene Bevölkerung betrachtet. Die Politik anderer Länder wird auf das Außenpolitik-Ressort verdrängt, mit dem Fernrohr blickt man darauf, was die Nachbarn so treiben. Auf diese Weise manifestiert sich die Differenz aus „uns“ und „den anderen“ im tagtäglichen politischen Diskurs.

Was bedeutet das für die Zukunft der EU?

Gewissermaßen wurden bei der EU die Kausalitäten verdreht: Es ist nicht eine sich solidarisierende, europäische Gesellschaft, die die überkommenen nationalstaatlichen Strukturen durch einen europäischen Superstaat ersetzen will. Vielmehr sind es die politischen Eliten selbst, die realisieren, dass Abstimmung und Vernetzung in Zeiten zunehmender gemeinsamer Probleme durchaus Sinn macht. Und so sinnvoll eine Supranationalisierung bei drängenden Themen wie der Flüchtlingsproblematik, dem Klimawandel oder der Automatisierung der Arbeitswelt auch wäre, so verheerend wäre sie, wenn sie ohne europäischen Demos stattfindet. Die Bürger der EU würden sich übergangen fühlen – und der europäische Traum über kurz oder lang von seinen Fliehkräften zerrissen werden.

Zurück in das Espace Léopold. Was man dort, zwischen Powerpoint-Präsentation, Häppchen und Orangensaft erleben kann, ist tatsächlich so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit im Kleinen. Ähnlich wie die Kaffeehaus-Treffs des 17. Jahrhunderts – ebenfalls in einem elitären Rahmen – ist das vielleicht der Grundstein eines gesamteuropäischen Zusammengehörigkeitsgefühls. Schüler-Austausch, Auslandsstudium und eine sich immer mehr europäisierende Arbeitswelt könnte das Selbstverständnis, sich in einem internationalen Umfeld zu bewegen, auf die breite Masse der jungen Generationen überschwappen lassen. Ob Deutscher oder Franzose, Grieche oder Ungar – wer in seinem Arbeitsalltag erlebt, dass konstruktive Zusammenarbeit gelingen kann, der baut Vorurteile ab. Und begreift sich vielleicht irgendwann als Gleicher unter Gleichen. Vielleicht wäre es dann sogar vorstellbar, dass die Bürger Europas selbst auf eine Supranationalisierung der EU drängen – einfach, weil sie feststellen, dass gemeinschaftliche Regeln auch den beruflichen und privaten Alltag vereinfachen, indem Nationalitäten womöglich ohnehin keine Rolle mehr spielen. So wäre die Solidarität der Tat nicht eine der großen politischen Entscheidungen, sondern eine des alltäglichen Erlebens des Einzelnen.

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